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Umwelt EIN OZEAN VON HORMONEN

Impotente Panther, transsexuelle Fische, Alligatoren mit verkümmertem Penis - in der Tierwelt stagniert die Fortpflanzung. Schuld sind Hormonsubstanzen, die zu einer neuen Umweltplage wurden. Auch der Homo sapiens zeigt Wirkung: Seine Zeugungskraft schwindet.
aus DER SPIEGEL 20/1994

Auf dem Staatswappen der USA bietet der Weißkopfseeadler einen prächtigen Anblick. Mit seinen mächtigen Schwingen und wehrhaften Krallen kündet er vom Mannesmut der Gründerväter, die ihr Land der Wildnis abtrotzten.

In den Wäldern Nordamerikas, wo der heraldische Raubvogel heimisch ist, fristet der Weißkopfadler inzwischen ein eher jämmerliches Dasein. Immer öfter entschlüpft den Adler-Gelegen verkrüppelter Nachwuchs. Viele Eier bleiben unbefruchtet, es fehlt den Männchen an der nötigen Zeugungskraft.

Potenzprobleme häufen sich auch sonst in der amerikanischen Fauna. In Florida entdeckten Forscher Alligatoren mit verkümmertem Penis, dazu Panther mit Hodenhochstand; die Testikel der unfruchtbaren Tiere stecken in der Bauchhöhle.

Auch bei vielen Flußfischen fanden die Experten Männchen mit geschrumpften Genitalien. Manche Fischarten haben die Fortpflanzung mittlerweile eingestellt, bei anderen unterscheiden sich die Männchen kaum mehr von den Weibchen. Überall im Reich der Wildtiere, so die Biologen, sei eine fortschreitende Verweiblichung des männlichen Geschlechts zu beobachten.

An der Ursache gibt es für die Wissenschaftler keine Zweifel: Schuld an der schleichenden Geschlechtsumwandlung sind die Abbauprodukte weiblicher Sexualhormone (Östrogene), dazu eine Fülle anderer chemischer Substanzen, die etwa als Pestizide in die Umwelt gelangen und im Organismus von Menschen und Tieren dieselbe Wirkung wie Östrogene entfalten.

»Wir sind«, so konstatiert das britische Fachblatt New Scientist, »umgeben von einem künstlichen Ozean von Östrogenen« - einer Hormonflut, die von der pharmazeutischen Industrie gespeist wird. Allein in Deutschland werden jährlich 20 Millionen Packungen Antibabypillen sowie 4 Millionen Packungen gleichfalls östrogenhaltiger Präparate gegen die Beschwerden der Wechseljahre geschluckt und wieder ausgeschieden. Durch die Abwasserkanäle verteilt sich der Hormonschwall übers ganze Land.

In der Nähe von Kläranlagen, deren Abflußrohre in Flüsse oder Bäche münden, entdeckten britische Wissenschaftler Forellen- und Karpfenmännchen, die zu Transsexuellen mutiert waren. Winzige, kaum nachweisbare Mengen des hochwirksamen Pillenhormons Äthinylöstradiol hatten die männlichen Tiere in zeugungsunfähige Pseudoweibchen verwandelt.

Östrogenspuren sammeln sich in Pflanzen und Tierkörpern; sie wandern ins Trinkwasser, über die Nahrungskette in die Lebensmittel und schließlich wieder zurück in den menschlichen Organismus. Stillende Mütter reichen die Hormongabe an ihre Säuglinge weiter.

Das in den Östrogenen schlummernde Gefahrenpotential wurde erstmals vor gut zwei Jahrzehnten erkannt, als sich in den USA die fatalen Folgen einer Hormonkur zeigten. Dort waren zwischen 1948 und 1971 mehr als zehn Millionen Schwangere mit dem inzwischen verbotenen synthetischen Sexualhormon Diethylstilböstrol (DES) behandelt worden; das Mittel sollte Fehlgeburten verhindern und, obendrein, besonders kräftige und gesunde Babys heranreifen lassen.

Die Kehrseite der Behandlung kam erst nach Jahr und Tag zum Vorschein: Die unter DES-Einfluß geborenen Kinder erkrankten später ungewöhnlich häufig an Scheiden- und Hodenkrebs; viele blieben unfruchtbar. Bei den Müttern der DES-Kinder wurde ein erhöhtes Brustkrebsrisiko beobachtet. Seither stehen die Östrogene als biologische Übeltäter unter Generalverdacht.

Dennoch wurden die Experten erst in jüngster Zeit auf jene Östrogenschwemme aufmerksam, die sich seit Jahren unkontrolliert in die Natur ergießt. Die Hormonstoffe und ihre chemischen Verwandten aus dem Pestizidarsenal bringen nicht nur die Tierwelt aus dem Lot; sie sind, wie sich immer deutlicher zeigt, längst auch zu einer Menschheitsplage geworden.

Die Biologen Richard Sharpe und Niels Skakkebaek, der eine aus Edinburgh, der andere von der Universität Kopenhagen, publizierten in der Fachzeitschrift The Lancet eine Liste von Gebrechen, die weltweit zunehmen und dem Einfluß der Umwelt-Östrogene zugeschrieben werden - darunter Hodenkrebs, Mißbildungen des Penis und eine stark verringerte Zahl von Spermien im Ejakulat. In den letzten 40 Jahren haben sich die Fälle von Hodenhochstand und Hypospadie (gespaltener Harnröhre) ungefähr verdoppelt.

Seit 1940, so die beiden Wissenschaftler, sank die durchschnittliche Anzahl der Samenzellen pro Milliliter Ejakulat von 113 Millionen auf 66 Millionen Spermien. Im gleichen Zeitraum schrumpfte die Durchschnittsmenge der bei einer Ejakulation produzierten Samenflüssigkeit um etwa 30 Prozent.

Bis zum Jahre 2000, taxierte unlängst der Chemieprofessor Ralph Dougherty von der Tallahassee-Universität in Florida, könnten rund 50 Prozent der männlichen US-Bevölkerung unfruchtbar sein. Schon jetzt sind in allen Industrieländern etwa 20 Prozent aller Ehepaare ungewollt kinderlos. In Deutschland wird die Zahl der unfruchtbaren Paare auf drei Millionen geschätzt.

Bis zu welchem Grad die hormonellen Schadstoffe am Schwinden der männlichen Zeugungskraft schuld sind, läßt sich nicht exakt ermitteln; allenfalls Menschenversuche brächten Klarheit. Sicher ist nur, daß die Spermatogenese - der komplizierte, in mehreren Stufen verlaufende Reifungsprozeß der Samenzellen - auf Störfaktoren höchst empfindlich reagiert (siehe Grafik Seite 224).

Besser kennen die Gelehrten den Einfluß von Sexualhormonen auf die Embryonalentwicklung. Von Beginn an steuert eine Vielzahl von ihnen den Aufbau des fötalen Organismus. Speziell bei der Geschlechtsbestimmung müssen die Signalstoffe in einer fein austarierten Balance stehen und im rechten Moment die Weichen stellen.

Soll aus einer Leibesfrucht mit männlichen Genen ein richtiger Knabe werden, so müssen männliche Geschlechtshormone (Androgene) dem Keimling beizeiten auf die Sprünge helfen. Diese Schlüsselsubstanzen schalten das maskuline Entwicklungsprogramm ein; ohne den ausdrücklichen Hormonbefehl spult der Embryo sein Normalprogramm ab - das weibliche.

Ein Übermaß von Östrogenen kann den männlichen Befehlsgebern dazwischenfunken, Pech für den Knaben: Er wächst zu einem Kümmerling heran, der mit den für einen Östrogenschaden typischen Gebresten behaftet ist.

Inzwischen sind den Wissenschaftlern einige Dutzend chemischer Verbindungen bekannt, die ähnlich wie Östrogene in die männliche Embryonalentwicklung eingreifen können. Die Zeitschrift Environmental Health Perspectives zählte unlängst 45 Chemikalien mit Östrogenwirkung auf, die allesamt in der Umwelt weit verbreitet sind, darunter die Abbauprodukte sogenannter Surfactants, die etwa Waschmitteln und Pestiziden, aber auch vielen Kosmetika beigemischt werden.

Auch halogenierte Kohlenwasserstoffe, die in dem Holzschutzmittel PCP (Pentachlorphenol) oder in Hydraulikölen enthalten sind, verhalten sich im menschlichen und tierischen Organismus wie Östrogene. Als besonders aggressiv gilt eine bestimmte Chlorverbindung, die bei mehr als der Hälfte aller Chemikalien mit Östrogeneffekt vorkommt.

Experten vermuten, daß die Zahl der aus den Industrielabors stammenden Östro-Schädlinge noch weit größer ist. Doch die Fahndung nach verdächtigen Substanzen erweist sich als schwierig. Bislang existiert kein Testverfahren, mit dem sich die Östrogenwirkung zuverlässig nachweisen ließe.

Auch wenn es gelänge, einen Test zu entwickeln, wäre die Hormongefahr längst nicht aus der Welt geschafft. Denn die chemischen Bösewichte verweilen, einmal in den Naturkreislauf geschleust, jahrzehntelang in Gewässern, Ackerböden und Organismen. Dort sind sie, wie der Zoologe Theo Colborn vom World Wide Fund for Nature in Washington feststellt, meist »nur in so geringen Mengen vorhanden, daß wir sie nicht einmal aufspüren können«.

Gerade das beunruhigt die Stoffwechselexpertin Ana Soto aus Boston. Zwar liegt, nach ihren Erkenntnissen, die Konzentration der einzelnen Substanzen in der Umwelt »meist unter der Wirksamkeitsschwelle«. Doch in Tierversuchen zeigte sich: Wenn mehrere niedrig dosierte Östrogenverwandte im Körper zusammentreffen, kommt es zu den gleichen Schäden wie bei einem stark erhöhten Hormonspiegel.

Da die chemischen Strukturen, die Östrogenschäden auslösen, bislang weitgehend unbekannt sind, konzentrieren sich die Forscher auf die Beobachtung von Wildtieren. Wo immer sie verkrüppelte oder fortpflanzungsmüde Fische, Vögel oder Reptilien aufspüren, suchen sie nach Wirkstoffen, die für den Schaden ursächlich sein könnten.

Bei den stark verweiblichten Alligatorenmännchen in Florida ist offenbar ein Pflanzenschutzmittel schuld an der schleichenden Geschlechtsumwandlung. Die Substanz, so konnten die Biologen nachweisen, bringt auf höchst verwickelte Weise den Hormonhaushalt der Muttertiere aus dem Gleichgewicht. Der männliche Alligatorennachwuchs degeneriert zum Zwitter.

Beim Mississippi-Stör waren es PCB- und DDT-Komponenten, die den männlichen Tieren offenbar schon vor langer Zeit die Zeugungskraft raubten: »Alle Fische, die wir heute aus dem Wasser holen«, erklärt ein Experte, »sind etwa 30 bis 40 Jahre alt.«

Was dem Stör widerfuhr, droht nach Ansicht des britischen Zoologen John Sumpter inzwischen einer großen Zahl von anderen Tierarten: Die Östrogenschwemme, warnt Sumpter, »kann im ganzen Tierreich die Fortpflanzung auf allen Stufen stören«; die Forschungsbefunde wirken auf den Gelehrten »wie ein einziger großer Alptraum«.

»Fünfzig Jahre Forschung« sind nach Sumpters Schätzung nötig, um herauszufinden, wie der Hormonhaushalt vor der Östrogenüberflutung geschützt werden kann. Dann könnte es auch für die Menschheit zu spät sein. Y

[Grafiktext]

_224_ Reifungsprozeß d. menschlichen Spermien (Spermatogenese)

[GrafiktextEnde]

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